Oelde steht auf und meldet sich zu Wort
Der Oelder Dipl.-Bauingenieur Berthold F. Sindermann war einer der mehr als zweitausend Oelder, die sich am 16. November auf dem Carl-Haver-Platz einfanden, um für ein vielfältiges und buntes Oelde einzutreten. In einem Gastbeitrag für den OELDER ANZEIGER fasst er seine Eindrücke zusammen.
Oelde setzt Zeichen
Gedanken von Berthold F. Sindermann
Am gestrigen Abend fand eine beeindruckende Demonstration in Oelde statt. Viele, sehr viele Menschen, nach Aussage der Polizei und der Veranstalter, ca. zweitausend Menschen versammelten sich auf dem Carl-Haver-Platz um ihren Unmut gegen die zeitgleich stattfindende Demonstration der AfD kundzutun. Diese hatte zu einer Demonstration mit Anfangskundgebung, Aufmarsch und Abschlusskundgebung aufgerufen. Und so hatten sich nach Bekanntwerden der Pläne der AfD Gruppen, Parteien und Vereine zusammengefunden, um sich diese Provokation, denn nichts anderes sollte die Demonstration der AfD sein, nicht ohne Gegenwehr gefallen zu lassen.
Es wurden am gestrigen Abend zwei Zeichen gesetzt: ein Zeichen der Provokation von Seiten der AfD und ein Zeichen des Widerstands gegen diese Provokation von anderen Bürgern aus der Stadt Oelde und dem Kreis Warendorf. Und so haben alle Seiten ihr verbrieftes Recht zur Versammlung gem. Art. 8 GG und zur Demonstration gem. Versammlungsgesetz NRW in Anspruch genommen.
Das war erst einmal ein deutlicher Hinweis auf das Funktionieren unseres Staats. Auf der einen Seite 300 Menschen, die für die Schließung der Grenzen sind, für ein Abschotten gegenüber anderen Menschen, die nicht auf Grund des Zufalls der Geburt auf deutschem Boden dazu gehören dürfen. Die anders sind, fremd. Und die augenscheinlich eins verursachen, und das ist Angst. Denn warum sonst sollte man etwas dagegen haben, dass Menschen in dieses Land ziehen und hier leben wollen. Es ist die pure Angst, Angst vor Veränderung im Land, aber natürlich auch Angst vor Veränderungen im eigenen Leben, Angst davor etwas abgeben zu müssen. Und da Angst ein sehr starkes Gefühl ist, wird naturgemäß die Reaktion auf diese Angst auch scharf ausfallen. Und sich in simplen Aussagen bündeln.
Auf der anderen Seite 2.000 Menschen, die sich mit den lautstark skandierten Forderungen nach Konsequenzen aus dieser Angst nicht einverstanden erklärten und durch ihre Teilnahme an der Veranstaltung „Oelde steht auf“ zeigten, dass man die Entwicklungen in diesem Land, in dieser Welt eben auch ganz anders interpretieren kann. Das man vielleicht gar keine Angst haben muss, vor der sich ändernden Welt, vor der sich ändernden Stadt und der eigenen Situation. Sondern das man diese Veränderungen im Sinne der Mitmenschlichkeit, der Empathie so gestalten kann, dass man die Menschen, die in diesen Zeiten vor Verfolgung, Krieg, Hunger und Tod fliehen, und dann eben auch zu uns kommen, hier aufnehmen kann und sie in unsere Gesellschaft eingliedern kann. Das dieses funktionieren kann sieht man ja jeden Tag.
Man kann leicht erkennen, dass es in dieser Situation und bei dieser Fragestellung mehr als eine Einschätzung gibt. Doch was ist richtig? Gibt es hier überhaupt ein richtig oder falsch, oder wie kann man herausfinden, was richtig ist und was falsch.
Es ist die Frage was man will. Was wollen wir in diesem Land? Fragte man gestern die Beteiligten auf den jeweiligen Veranstaltungen, dann wären die Antworten wahrscheinlich eindeutig gewesen. Die Einen wollten „Merkel muss weg“, „Grenzen dicht“ und so weiter und auf der anderen Seite wollte man die „Nazis raus“ befördern, schmeißen oder was auch immer. Hauptsache weg. Was man auf keiner der beiden Seiten wollte, war eine politische Auseinandersetzung um die Dinge über die man augenscheinlich unterschiedlicher Ansicht war und ist.
“Je ne suis pas d’accord avec ce que vous dites, mais je me battrai jusqu’au bout pourque vous ayez le droit de le dire…” Dieses Zitat, das so viel bedeutet wie “”Ich bin nicht einverstanden mit dem, was Sie sagen, aber ich werde mich bis zum Ende dafür einsetzen, dass Sie es sagen dürfen…”wird Voltaire zugeschrieben und stellt für mich einen Pfeiler des Umgangs, den wir miteinander pflegen sollten, dar.
Wir alle leben in diesem Land, ein Land, das es übrigens ohne uns gar nicht gäbe. Und jeder von uns, der sich innerhalb der gesetzlichen Regeln dieses Landes bewegt, hat das Recht hier zu sein, hier zu leben, hier zu arbeiten, hier seine Ängste zu pflegen und seiner Meinung Ausdruck zu verleihen. Jeder! Und niemand ist dafür zu verdammen, zu beschimpfen oder zu verurteilen.
Eine Auseinandersetzung mit der AfD, wie sie von einigen innerhalb der Facebook Gruppe „Oelde steht auf“ praktiziert wurde, indem man von „braunem Pack“ von „hirnlosen Idioten“ und anderen Dingen schreibt, wo jemandem das Essen hoch kommt, oder der politische Gegner als hirnverbrannt bezeichnet wird, ist in meinen Augen weder angebracht, noch zielführend. Und da diejenigen, die es meint, die Texte auch nicht lesen, ist es nur die hohle Phrase einer Selbstvergewisserung.
Ist das die Art, wie wir in diesem Land miteinander umgehen wollen, sollen oder dürfen? Ich glaube nicht. Es muss eine politische Auseinandersetzung bleiben, sonst geht es nicht. Sonst verlassen wir unsere Grundlage, und machen uns mit diesen Menschen, die ein anderes Land wollen, gemein. Wenn wir nicht anders sind, als diejenigen die hetzen, dann sind wir also logischerweise genauso.
Und wenn wir genauso sind, was unterscheidet uns dann? Die gute Sache? Wer sagt denn, dass unsere Sache gut ist und die Sache der Anderen verdammenswert. Doch nur unsere eigene Einsicht in die Dinge. Dass man auch unterschiedlicher Meinung sein kann und auch darf bedarf doch keiner Erläuterung, das ergibt sich allein aus der rechtlichen Grundlage dieses Staates. Es gibt hier keinen richtigen Weg. Wir können entscheiden, welchen Weg wir gehen wollen, aber es gibt nur einen Weg auf Grundlage unseres Grundgesetzes und der sich daraus ergebenden, rechtlichen Leitlinien. Alles andere haben wir selbst mit Leben zu füllen. Die Bevölkerung eines Landes entscheidet, wohin sich das jeweilige Land bewegt. Und jeder, der Teil dieses Landes ist, kann mitwirken, dieses Land ein wenig in die Richtung zu schubsen die er für richtig hält.
Doch was folgt daraus? Politik wird nicht im Internet gemacht und auch nicht am Stammtisch, nicht auf der Straße und nicht in der Kirche. Überall dort wird es zwar versucht, aber Politik findet in diesem Land dort statt, wo das Grundgesetz es vorsieht: in den Parlamenten, kommunal im Rat, im Landtag und im Bundestag und Bundesrat. Dort wird letztendlich entschieden, wohin dieses Land sich wendet. Wendet es sich in Richtung Abschottung, Nationalismus und Egoismus, oder wendet es sich in Richtung Offenheit, Menschlichkeit, Mitgefühl und Hilfestellung? Deshalb ist jedoch eine politische Auseinandersetzung mit andersdenkenden Menschen erforderlich. Und egal wie anders diese Menschen denken, wenn die Auseinandersetzung nicht auf Gesprächsebene und über Mehrheiten läuft, dann kann sie nicht zum Erfolg führen.
Und wenn wir auf dieser Grundlage leben wollen, dann müssen wir auch auf dieser Grundlage handeln. Wo sind die vielen Menschen, die sich in den Parteien, oder zumindest bei den Wahlen gegen die AfD, die Rechte, die NPD und wen auch immer wehren, wo sind die Menschen, die sich politischen Gruppierungen anschließen um dort für ihre Vorstellungen der Gestaltung eines Landes streiten? Warum sind bei Kommunalwahlen Beteiligungen von weniger als 60 % der wahlberechtigten Menschen mittlerweile eine Normalität und nicht ein Schock?
Ich weiß es nicht. Solange wir uns nicht wenigstens in dieser Hinsicht engagieren und unsere Meinung kundtun, überlassen wir das Feld in jedem Fall denjenigen, die ein völlig anderes Land wollen. Und deshalb ist der gestrige Abend auch nichts anderes als ein Zeichen der Selbstvergewisserung der eigenen Meinung. Auf der einen wie auf der anderen Seite.