Warum die massenhafte Vergabe von Antibiotika an Nutztiere den Menschen und den Tieren schadet
Es gibt keinen Konflikt
Dieser Mann heißt Martin Häusling. Er ist Biobauer aus Hessen und in diesen Tagen einer der am meisten verunglimpften und beschimpften Menschen in diesem Land.
Ginge es nach einer Vielzahl von Tierärztinnen, Tierarztvereinigungen, Landwirten im Bereich der Massentierhaltung, Hunde- und Katzenbesitzern, Schafzüchtern, Frettchenhalterinnen und sonstigen Menschen, die sich das Tierwohl auf die ein oder andere Art ans Revers geheftet haben, gleichzeitig jedoch mit dem Begriff Tierwohl geradezu inflationär umgehen, müsste dieser Mann sofort aus der Öffentlichkeit verschwinden und sich auf seinen Bauernhof in die hessische Einsamkeit verabschieden.
Doch wer ist dieser Mann? Und wie konnte es dazu kommen, dass ein 60-jähriger Landwirt, der seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments ist, so zur Hassfigur geraten konnte?
Der Vorgang
Im Jahr 2018 verabschiedete das Europäische Parlament eine Verordnung, die die Verwendung von Arzneimitteln im Bereich der Veterinärmedizin neu regeln sollte. Es war die Tierarzneimittelverordnung 2019/6. Diese Verordnung ist seit 2019 in Kraft getreten, ist aber erst, mit Rücksicht auf Regelungen in den einzelnen Mitgliedsländern und zur Vorbereitung, ab dem 28.01.2022 verbindlich EU-weit umzusetzen. Da diese Verordnung nicht alles in der gebotenen Ausführlichkeit und Klarheit regelt, gibt es eine weitere Verordnung, die im Zuge einer sogenannten delegierten Verordnung durch die EU-Kommission erstellt wurde. Diese delegierte Verordnung, die Kriterien für die Verwendung von Reserveantibiotika enthält tritt automatisch in Kraft, wenn weder der Europäische Rat noch das EU-Parlament, ein Veto einlegen. An dieser neuen, ergänzenden Verordnung schieden sich jedoch die Geister, und Martin Häusler legte als Mitglied des Ausschusses für Umweltfragen, Volksgesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI) ein Veto ein. In der anschließenden Abstimmung im Ausschuss erhielt sein Veto eine Mehrheit und der Verordnungstext wurde abgelehnt. Warum?
Der Grund
Stein des Anstoßes ist die Behandlung von Tieren mit Antibiotika. Das ist normale Praxis und viele Leserinnen und Leser dieser Seiten haben sicherlich von Ihrem Tierarzt schon einmal ein Antibiotikum für ihr Tier verschrieben bekommen, so dass die Erkrankung schnell ausheilen konnte. Wieso sollte also jemand gegen die Behandlung von Tieren mit Antibiotika etwas haben?
Niemand hat etwas gegen die Behandlung von Tieren mit Antibiotika, auch wenn gerade viele Tierärzte versuchen, das Gegenteil zu behaupten. Und doch gibt es Streit, wie kann das sein?
Der Streit entzündet sich, nicht nur aber auch an Artikel 37 der Verordnung, die die Zulassung von Arzneimitteln zur Behandlung klärt:
Artikel 37 – Beschlüsse über die Ablehnung von Zulassungen
(3) Eine Zulassung für ein antimikrobiell wirksames Tierarzneimittel wird versagt, wenn der antimikrobiell wirksame
Stoff gemäß Absatz 5 für die Behandlung bestimmter Infektionen beim Menschen vorbehalten ist.
(4) Die Kommission erlässt delegierte Rechtsakte gemäß Artikel 147, um diese Verordnung durch die Festlegung von
Kriterien für die Bestimmung der antimikrobiellen Wirkstoffe zu ergänzen, die für die Behandlung bestimmter Infektionen beim Menschen vorbehalten bleiben müssen, damit die Wirksamkeit dieser antimikrobiellen Wirkstoffe erhalten bleibt.
(5) Die Kommission bestimmt mittels Durchführungsrechtsakten antimikrobielle Wirkstoffe oder Gruppen derselben,
die für die Behandlung bestimmter Infektionen beim Menschen vorbehalten bleiben. Diese Durchführungsrechtsakte werden gemäß dem in Artikel 145 Absatz 2 genannten Prüfverfahren erlassen.
Hier ist also eindeutig geklärt, wie zu verfahren sein soll. Antibiotika werden für die Behandlung an Tieren nicht zugelassen, wenn
- sie für die Behandlung von Menschen vorbehalten sind
Das ist eindeutig! Doch warum ist das alles erforderlich?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bemüht sich seit vielen Jahren darum, dass Antibiotika sowohl in der Humanmedizin, als auch in der Tiermedizin sachgerecht und vorsichtig angewendet werden. Im Jahr 2019 erfolgte auf grund der zunehmenden Anzahl von Resistenzen eine Neuordnung der Beurteilung von Antibiotika. Hier wurden nunmehr 3 Kategorien eingeteilt:
- Access Group (Antibiotika der ersten und zweiten Wahl, die den besten Therapieerfolg gewährleisten und gleichzeitig das Potenzial für Resistenzen minimieren)
- Watch Group (Antibiotika der ersten oder zweiten Wahl nur für bestimmte, begrenzte Anzahl von Infektionssyndromen indiziert, sie sind anfälliger für Antibiotikaresistenzen und daher vorrangige Ziele von einer gut überwachten Medikation)
- Reserve Group (Antibiotika des “letzten Auswegs”, geeignet nur für ganz spezielle Patienten mit lebensbedrohlichen Infektionen, deren Behandlung eng überwacht um zu gewährleisten, dass ihre anhaltende Wirkung in der Therapie erhalten bleibt.
Die WHO tut das natürlich nicht, weil sie nichts anderes mit ihrer Zeit anzufangen wüsste, sondern weil hier höchster Handlungsbedarf ist. Sie hat hierzu eine eigene Kampagne ins Leben gerufen AWaRe.
Wenn diese Medikamente die letzte Hoffnung für erkrankte Menschen sind, dann werden sie doch auch sicherlich nur in Ausnahmefällen verwendet?
Dem ist leider nicht so. Sowohl in der Humanmedizin, vor allen Dingen aber auch in der Veterinärmedizin werden diese Reserveantibiotika/Mittel der letzten Wahl verwendet.
Ein Beispiel: Colistin
Colistin ist ein Medikament, das vornehmlich in der Tiermedizin verwendet wird. Im Jahr 2019 wurden in Deutschland hiervon 66.000 kg Medikamente verabreicht. Das Mittel wird hauptsächlich in der Behandlung von bakteriell bedingten Darmerkrankungen, aber auch anderen Erkrankungen eingesetzt. Nun werden schon seit einigen Jahren Resistenzen gegen Colistin beschrieben. So wiesen im Jahr 2020 7,5 % der Proben des Bakteriums Escherichia Coli in der Lebensmittelkette von Putenfleisch und 6,90 % der Proben in der Lebensmittelkette von Hähnchenfleisch eine Resistenz gegen Colistin auf. Wenn man bedenkt, dass dieses Bakterium in ca. 7% der Proben nachgewiesen wurde, aber gleichzeitig einen Anteil von ca. 0,1% der Darmflora des Menschen bildet, wird vielleicht deutlich, dass uns Menschen eine Resistenz in diesem Bereich durchaus etwas angeht und nicht nur landwirtschaftliche Betriebe betrifft.
Da es nicht nur um Colistin und Escherichia coli geht, sondern um viele andere, ebenfalls bedrohliche Resistenzen bei Bakterien, und weil dieser Zustand sich in Zukunft in eine für die gesamte Weltbevölkerung bedrohliche Situation entwickeln könnte und wahrscheinlich auch wird, legte Martin Häusling sein Veto ein.
Denn sowohl seiner Meinung nach, als auch der Meinung der Mehrheit des Umweltausschusses im Europaparlament, sowie vieler anderer Fachleute und Fachgremien kann es nicht richtig sein, wenn wir lebensbedrohliche Infektionen bei Tieren und Menschen nicht mehr behandeln können. Aus diesem Grund sollte der ganze Bestände betreffende Antibiotikaeinsatz nicht erlaubt werden, die Behandlung einzelner, erkrankter Tiere jedoch weiter möglich sein.
Die Argumente
Nachdem der Ausschuss des Europäischen Parlaments die Entscheidung getroffen hatte, ging ein Aufschrei durch die versammelte Tierärzteschaft und ihre Vereinigungen.
Der Bundesverband der praktizierenden Tierärzte spricht von Therapienotstand und startete eine herzergreifende Kampagne mit einem treu blickenden Hund, der augenscheinlich um die tierverachtende Politik von Herrn Häusling wusste und um Hilfe bettelte.
Auch die Bundestierärztekammer griff in die Debatte ein und schilderte ein Szenario, in dem nicht nur Hunde, Katzen, Geckos, Kaninchen und Pferde eingeschläfert werden müssten, sondern auch keine Rettung mehr für Giraffen, Eisbären und Menschaffen möglich wäre. Doch warum?
Würde die delegierte Verordnung der EU-Kommission im Plenum des Europäischen Parlaments nicht angenommen und das Veto des Ausschusses damit bestätigt, befürchten die Kritiker, dass ab dem 28.01.2022 keine adäquate Behandlung innerhalb der Tiermedizin mehr möglich wäre. Das Hauptargument ist hierbei, dass die EU für die Festlegung verbindlicher Regelungen sehr lange braucht und dann eben auf Grund des Verbots für einen ungewiss langen Zeitraum keine angemessene Behandlung erfolgen könne.
Doch stimmt das?
Nein, denn wie ein am 16.08.2021 veröffentlichtes juristisches Gutachten erklärt, fordert das Veto und der daraus folgende Beschluss des Umweltausschusses des Europa-Parlaments das die global am allerwichtigsten eingestuften Antibiotika:
- prinzipiell für lebensrettende Maßnahmen in der Humanmedizin reserviert sind,
- nicht mehr für die problematische Gruppenbehandlung von Tieren eingesetzt werden können,
- dagegen jedoch eine Einzeltierbehandlung mit diesen Antibiotika über die Tierarzneimittelverordnung zu ermöglichen und zu regeln, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
- Klinische Diagnostik einer schweren, lebensbedrohlichen Krankheit, die bei unzulänglicher Behandlung zu schwerer Krankheit oder dem Tod führen könnte
- Die Krankheit lässt sich nicht durch eine alternative Behandlung, alternative Managementstrategien oder verbesserte Tierhaltung vermeiden, behandeln oder kontrollieren
- Eine Antibiotika-Empfindlichkeitsprüfung (Antibiogramm) hat stattgefunden
Das bedeutet, dass die Verwendung dieser Antibiotika nicht verboten oder ausgeschlossen ist, sondern, dass der Einsatz nicht flächendeckend und ohne strenge medizinische Abwägung und Voruntersuchungen stattfinden darf.
Da hier nun neben gesundheitlichen Überlegungen auch wirtschaftliche Interessen betroffen sind, stehen sich die Befürworter der delegierten Verordnung der EU-Kommission und die Befürworter eines sorgfältigen Umgangs mit lebenswichtigen Antibiotika momentan unversöhnlich gegenüber. Doch erklärtes Ziel war immer, den Einsatz von Antibiotika bei Tieren, die zur Lebensmittelgewinnung dienen, einzudämmen und nicht etwa die angemessene
Behandlung einzelner Haustiere zu untersagen.
Die Lösung
Auf Grund der Anfeindungen durch die oben genannten Vertreter der Veterinärmedizin hat Martin Häusling in einem offenen Brief mitgeteilt, worum es ihm geht. Es geht eben nicht um den Ausschluss einer antibiotischen Behandlung in Einzelfällen, oder gar bei Zoo- und Haustieren. Es geht darum, Antibiotika nur dort und gezielt nur dort einzusetzen, wo es medizinisch geboten und nicht anders möglich ist. Tier jedoch, die nicht erkrankt sind, mit Antibiotika zu behandeln, die an anderer Stelle dadurch keine Wirkung mehr zeigen, das ist nicht nur unnütz und eine Verschwendung von medizinischer Forschung und Ressourcen, sondern auch gegenüber den Menschen, deren Leben von wirksamen Antibiotika abhängt, unethisch. Weiterhin hat er an dieser Stelle in dankenswerter Ausführlichkeit erläutert, worum es bei dem Streit geht, wie die weiteren möglichen Vorgehensweise sind und, wie wir alle in der aktuellen Pandemie erfahren konnten, nicht alles in Europas Mühlen langwierig sein muss.
Ist denn einzig und allein die Tiermedizin der Auslöser für Resistenzen im Bereich Antibiose? Natürlich nicht. Der weitaus größere Teil der Resistenzen entsteht in Krankenhäusern und durch die Behandlung von Menschen. Hier werden mehr Fehler gemacht, als in einen Artikel wie diesen passen.
Dann kümmert euch doch erst einmal um die Humanmedizin!
Richtig, das ist unbedingt erforderlich, dringend geboten und unerlässlich. Wenn wir nicht wollen, dass die Anzahl der Resistenzen weiter steigt, dann muss hier unbedingt etwas passieren. Doch warum führt uns diese Forderung heute nicht weiter? Diese Forderung ist genauso kurzsichtig und genauso wenig haltbar, wie die Forderung, dass erst einmal die USA und China ihren CO2-Ausstoß verringern müssen, bevor der winzige Anteil Deutschlands in Gewicht fallen darf. Es ist ein globales Problem, und jeder muss seinen Anteil leisten.
Das eine tun, ohne das andere zu lassen
Momentan steht eben die Verabschiedung der endgültigen Regelung der Tierarzneimittelverordnung zur Debatte, hier werden in Kürze die endgültigen Pflöcke eingerammt und die Claims abgesteckt. Niemand wird bereit sein, eine Tierarzneimittelverordnung, die incl. zugehöriger Verordnungen in Kraft tritt und mehr als 20 Jahre gebraucht hat, um zu entstehen, im unmittelbaren Anschluss wieder aufzubrechen und erneut zu verändern. Was aber sehr wohl der Fall sein wird, das ist folgendes Szenario: kommt es im Januar zu einer nicht ergänzten Anwendung der bestehenden Tierarzneimittelverordnung, dann besteht auf Grund der unbefriedigenden Situation im Bereich Veterinärmedizin ein riesengroßer Druck, sich auf europäischer Ebene unverzüglich und intensiv mit einer Neuordnung zu befassen. Hierfür sorgen die tausenden von Tierärztinnen und Tierärzte, die Millionen von Haustierhalterinnen und -haltern und zehntausende von landwirtschaftlichen Betrieben innerhalb der EU. Doch wenn die delegierte Verordnung in der jetzigen Form vom Plenum des EU-Parlaments angenommen wird und in Kraft tritt, dann geben wir die letzte und eiserne Reserve, nämlich die Reserveantibiotika, aus der Hand. Das ist die Entscheidung. Hier kann jede und jeder selbst entscheiden, wie eine vernünftige Wahl auszusehen hat. Doch sollte in einigen Jahren oder Jahrzehnten ein Angehöriger, ein Enkel, eine Urenkelin an einer Infektion erkranken und im Lauf der Behandlung auf Grund fehlender Behandlungsmöglichkeiten versterben, dann sage niemand, er oder sie habe das nicht gewusst.
Und aus diesen Gründen ist sowohl Martin Häusling, als auch seinen mitstreitenden und unterstützenden Helferinnen und Helfern innerhalb und außerhalb des Europa-Parlaments, insbesondere jedoch auch dem Umweltausschuss des Parlaments zu danken, dass die EU-Kommisssion beauftragt wurde, ihren Entwurf für die delegierte Verordnung zu überarbeiten. Denn nichts anderes bedeutet der Beschluss des Ausschusses.
Und jetzt? Was geht das mich an? Sollen die in Brüssel doch machen!
Wie immer steht vor dem Erfolg die Mühe. Werden sie aktiv. Schreiben Sie Ihrem und Ihrer Abgeordneten im EU-Parlament, schreiben Sie Ihren Bundestagsabgeordneten und den Landtagsabgeordneten, den Kreistagsabgeordneten und den Vertreterinnen und Vertretern Ihrer Gemeinde. Lassen Sie aus dem momentan bestehenden Säuseln des Windes einen Sturm entstehen, der dafür sorgt, dass Ihr Wille Einfluss nimmt. Wie auch immer der aussehen mag. Mischen Sie sich ein!
Mittlerweile gibt es eine Petition, die an die Abgeordneten des EU-Parlaments gerichtet ist und diese auffordert, sich bei der vorgesehenen Abstimmung im September im Plenum des Parlaments für einen Erhalt der für das Überleben großer Teile der Menschheit wichtigsten Medikamente einzusetzen und der Entscheidung des Ausschusses vom Juli zu folgen. Andernfalls überlassen Sie das Feld denjenigen, die sich auf jeden Fall einmischen und um ihre Interessen kämpfen. Dies sind Landwirte, Tierärzte und Pharmaunternehmen, die vom jetzigen System profitieren, denn das bedeutet keine Änderung der Gewohnheiten. Das bedeutet auch weiterhin phrophylaktische Gabe von Antibiotika in Mastbetrieben, bei denen ohne Rücksicht auf tatsächliche Erkrankungen alle anwesenden Tier behandelt werden.
Falls Sie die Informationen aus diesem Artikel hilfreich fanden, haben Sie die Möglichkeit bei change.org unter dieser Adresse eine Petition zu unterstützen, welche die europäischen Parlamentarier auffordert sich dem Votum des Ausschusses anzuschließen und die Reserveantibiotika (besser zu schützen.
Sollten Sie die Kontaktdaten Ihrer Abgeordneten in den entsprechenden Gremien suchen, dann finden Sie diese hier:
EU-Parlament | Abgeordnete aus Deutschland |
Bundestag | Abgeordnete des Bundestages |
Landtag NRW | Abgeordnete des Landtag NRW |
Kreis Warendorf | Mitglieder des Kreistages in Warendorf |
Rat der Stadt Oelde | Mitglieder im Rat der Stadt Oelde |