Der soeben wiedereröffnete Eis-Salon Molin ist seit vielen Jahren eine Institution in der Oelder Ruggestraße, die Leckermäuler aus Nah und Fern anzieht. Doch wer erinnert sich noch an die Anfänge des Eiscafés, das vor einem halben Jahrhundert von Franco und Rina Molin auf der Langen Straße gegründet wurde? Gegenüber dem damaligen Friseur Althaus und der Bäckerei »Stroh«, die später von einem »Hill«-Supermarkt abgelöst wurden, befand sich Molins kleine Eisdiele, vor der sich häufig lange Schlangen bildeten.
Franco Molin war ein kräftiger, ein wenig zum Bauchansatz neigender Italiener Anfang 30. Seine Haare bestanden aus einem dichten Kranz schwarzer Locken, die ölig glänzten. Goldene Eckzähne blitzten, wenn Francos fleischiger Mund breit grinste. Und er lachte ständig, dieser kleine Italiener …
Franco trug ein weißes Nyltest-Hemd, das oben zwei Knöpfe Luft ließ. Eine Schürze lief in einer Schlaufe hinter dem Kopf zusammen und wurde am Rücken zusammengebunden. Franco krempelte seine Hemdsärmel bis über die Ellbogen hoch und zeigte gern seine muskulösen Arme und seine kräftigen Hände.
Franco machte Eis. Italienisches Eis natürlich, die Kugel zu zehn Pfennig. Vanille, Schokolade, Mokka, Zitrone, Erdbeere und an besonderen Tagen das halbgefrorene Cassatta, eine sizilianische Spezialität. Das Café, das er betrieb, trug seinen Namen: »Eis Molin«.
Ein großer Hit der 60er Jahre: »Zwei kleine Italiener«
Grandioser Erfolg der Eisdiele
Franco Molin kam etwa 1962 nach Oelde. Nicht, dass man sich rund um die Johannes-Kirche über einen Italiener auf der Hauptstraße gefreut hätte. Im Gegenteil. Die Geschäftsleute witterten einen neuen Konkurrenten. Spielzeughändler sorgten sich um den Absatz an Luftballons und Wundertüten, der »süße August« stöhnte und fürchtete Umsatzverluste, Imbissstuben blieben auf Currywürsten, Pommes und Ketchup sitzen. Denn der Erfolg des kleinen Eiscafés war einfach grandios.
Scharen heimziehender Schulkinder umlagerten die drei Treppenstufen zu dem Lädchen, sobald er mit den ersten Frühlingsstrahlen öffnete. Franco schuftete sich Schweißtropfen auf die Stirn, um die Schlange stehenden Leckermäuler zu stopfen. »Eis Molin« hielt sich auch nicht an die ortsübliche Mittagsruhe zwischen eins und drei, in der Oelder Geschäfte traditionell geschlossen hatten. Sein Betrieb war durchgehend geöffnet. Der freundliche Italiener dachte nicht an Siesta. Sein süßes Leben gehörte dem Eis. Der Eisbäcker fuhr nebenher noch mit einem von dem Oelder Grafiker Norbert »Molly« Löbbert gestalteten Dreirad von Veranstaltung zu Veranstaltung, um vor Ort Eis zu verkaufen.
Vor 100 Jahren: Eisverkäufer Giovanni Martini in Recklinghausen
Foto: petrafoede.de
Eimerweise »kochte« Franco sein Eis nach überlieferten Geheimrezepten. Er vermischte die Grundzutaten des Speiseeises – Eier, Zucker und Milch – und erhitzte sie zunächst auf 85 Grad, bevor sie dann auf Gefriertemperatur heruntergekühlt wurden. Entsprechend der gewünschten Geschmacksrichtung mischte er Fruchtsäfte, Gewürzmittel und Geschmacksstoffe in die Eismasse. Wenige Stunden später zerging die süße Last auf aufgeregten Zungen. Italienisches Eis – das war ein Qualitätssymbol.
Ein Hauch von Bella Italia
Den schmalen Eingangsbereich der Eisdiele füllte zur Hälfte eine gläserne Theke, an der sich jedermann die Nase platt drücken konnte, um die kühlen Köstlichkeiten zu bestaunen. Hinter der Scheibe schimmerten farbenfrohe Eissorten in tiefen Edelstahlbehältern. Eine cremefarbene Eismaschine rührte nach Bedarf und sicherte den Nachschub. Über der Theke hingen große Spiegel. Davor standen auf gläsernen Regalen verschiedene Pappbecher und versilberte Schalen für große Portionen, die im Café verzehrt werden konnten. In einem silbernen Ständer türmten sich in bedrohliche Höhen Waffeltüten und Hörnchen, in die das Eis gedrückt wurde. Bunte Eislöffel aus durchsichtigem Plastik vervollständigten das Bild des Tresens.
An der Wand hing eine gerahmte Fotografie von einem sonnenbeschienenen tiefblauen Bergsee, hinter dem sanft die Dolomiten schimmerten. Die Heimat winkte in Francos kleine Stube und entlockte ihm manchen Seufzer der Sehnsucht an sein geliebtes Bella Italia. Von früh bis spät liefen Schallplatten italienischer Sänger auf einem tragbaren Plattenspieler, der neben der Sahnemaschine stand. Gluterfüllte Stimmen sangen von Liebe und Glück, von Trauer und Tod, vom Weg nach oben und von dem nach unten. Der dazu sang, das war Franco. Er kannte alle Lieder und summte auch bei Stromausfall weiter.
Seine Kunden bediente er blitzschnell, höflich und zuvorkommend. Für ihn waren alle Kunden gleich. Wenn ein kleines Mädchen den Groschen über die hohe Theke reichen wollte und es nicht schaffte, Franco beugte sich hinunter und tauschte das Geldstück gegen eine besonders leckere Kugel Eis. In solchen Situationen wurde auch nicht die Mutter mit drei Kindern bevorzugt, die tiefer ins Portemonnaie greifen konnte. Sie musste warten, bis sie an der Reihe war und Franco ihre Wünsche erfüllte.
Treffpunkt der Gastarbeiter
Gleich im Eingangsbereich der kleinen Eisdiele saßen an kleinen Tischen italienische Kollegen, die vor allem aus dem Süden Italiens nach Oelde gekommen waren, um bei heimischen Industrieunternehmen zu arbeiten. Sie waren die ersten Ausländer, die nach dem Krieg in das Städtchen kamen, um sich als preiswerte Arbeitskräfte zu verdingen. Mit der Anwerbung von italienischen Arbeitern durch die deutsche Regierung waren ab 1955 immerhin rund zwei Millionen Italiener aus allen Regionen des Landes nach Deutschland gekommen. Viele von ihnen arbeiteten zunächst in den Zechen und Industriebetrieben des Ruhrgebiets.
Die alteingesessenen Oelder bezeichneten die Gastarbeiter abfällig als »Spaghettifresser« und »Makkaroni«. Freundschaft schlossen nur die jungen Leute, die schon aufgrund ihrer langen Haare ein wenig »anders« waren und »Eis Molin« schnell zu ihrem Hauptquartier erkoren hatten. Sie freundeten sich mit den Kollegen aus Napoli und Palermo an und tauschten über die Sprachbarrieren hinweg ein paar Sätze Deutsch gegen einige Brocken Italienisch. Der Palast des Eisbäckers wurde schnell zu einem Treffpunkt von Menschen, die an den gesellschaftlichen Rand gedrückt wurden.
Molins Eisdiele in wilden Hippiezeiten aus der Sicht eines Oelder Karikaturisten.
Links im Bild Werner Funke, rechts Ruprecht Frieling, der Verfasser des Beitrags
Beatmusik und erste Küsse
Gleich hinter dem Eingangsbereich gab es einen kleinen Raum, in dem Francos Frau Rina servierte. Sie war eine wundervoll herzliche Frau mit üppigem, schwarzem Haar, die in Windeseile die Herzen aller Besucher eroberte. In diesem Raum gab es auch eine Musikbox, in der für ein paar Groschen die deutschen Schlager jener Zeit ebenso erklangen wie die ersten Platten der »Beatles« und anderer britischer Bands. Über eine kleine Treppe gelangte man von dort in das Obergeschoss der Eisdiele. Hier trafen sich frisch verliebte Pärchen und tauschten erste Küsse aus. Es gab eine Toilette und die klitzekleine Wohnung der Molins, aus der sich bald Nachwuchs bemerkbar machte. Tochter Sonja wurde geboren.
Von der Langen Straße zog das »Eiscafe Molin« zum heutigen Standort in die Ruggestraße um. Vor 16 Jahren übergaben Molins ihren Salon in die Hände der Familie Macorig aus Undine. In den ursprünglichen Räumen der Eisdiele Lange Straße eröffnete Ralf Althaus einen Schallplattenladen.
An Franco und Rina Molin erinnern sich heute noch viele ältere Oelder gern. Ihre herzliche Art, ihr sonniges Temperament und ihre tolerante Einstellung gegenüber den farbenprächtigen Auswüchsen der Beatniks, Hippies und »Gammler«, die es vor 50 Jahren auch in Oelde gab, machen sie unvergessen.
Blick in den heutigen Eissalon, der von Familie Macorig liebevoll geführt wird
Foto: ©Torsten Schwichtenhövel
Fotos und Zeitzeugen gesucht
Der OELDER ANZEIGER würde sich freuen, wenn sich in dem ein oder anderen Archiv noch eine Fotografie der Eisdiele findet und sammelt gern weitere Erinnerungen an einen Ort, der Teile der damals jungen Generation der Stadt maßgeblich prägte.
»Eis Molin« war übrigens nicht die erste Eisdiele in Oelde. Zeitzeuge Heinz-Werner Drees erinnert sich, dass Theo Deitinghoff, Betreiber des »Lindenhof« in der Lindenstraße bereits ca. 1958/59 Eis verkaufte und später einen eigenen Eissalon eröffnete. An Molins Erfolg reichte er jedoch nie heran.